Das wahre Gesicht

Auf Instagram folge ich einer Bloggerin, die hin und wieder ihre Texte mit den Worten beginnt: „Wenn wir heute Kaffee trinken würden, würde ich dir erzählen …“. Und was dann folgt, sind meist sehr persönliche Worte und Erkenntnisse. Einblicke in ihr Innerstes. Ich lese diese Gedanken und denke: „Ja. Genau. So geht es mir doch auch! Ich bin nicht alleine! Wie gut, dass sie sich traut, sich so zeigen.“

Ich kenne das auch von guten, offenen und ehrlichen Gesprächen mit Freunden. Es sind die Momente, wenn plötzlich Nähe und Vertrauen entsteht, weil mein Gegenüber zeigt, wie es im Moment wirklich läuft. Nämlich oft gar nicht gut. Wenn Fassaden fallen und ein wenig vom Innen nach Außen kommt. Was für eine Erleichterung, wenn ich zu einer Freundin sage: „Du, es gibt Tage, da kann ich mich selbst nicht leiden, da bekomme ich nichts auf die Reihe.“ Und sie dann sagt: „Das geht mir doch genauso!“

Warum erzählen wir einander so wenig von dem, wie´s da drinnen aussieht? Warum diese Tarnung? Warum diese Scham? Wir haben doch schon erfahren, dass aus Verletzlichkeit, die gefühlt und gezeigt wird, Kraft wachsen kann. Aber natürlich weiß ein jeder auch um das Risiko des sich Öffnens und bleibt ein Stück weit unserer Kultur verhaftet, die Außen und Innen gern voneinander trennt.

Im Text heute lese ich von einer Frau mit Dauerblutungen, mit Menstruationsbeschwerden. Kein Arzt kann ihr helfen. Sie, die durch diese nicht zu stillenden Blutungen auch noch als „unrein“ gilt, sucht nun Hilfe bei Jesus. Sie schämt sich sehr und käme niemals auf die Idee, offensiv auf Jesus zuzugehen und ihn direkt zu bitten. Ihr Griff nach dem Gewand Jesu ist ein nonverbaler, ein stummer Hilferuf. Aber Jesus merkt es. Er bemerkt die Frau. Er fordert sie auf, zu sprechen. Sie zittert. Sie hat Angst. Aber sie schüttet ihm ihr Herz aus. Sie erzählt die ganze Wahrheit. Und sie ist geheilt.

Was hier so verdichtet erzählt wird, ist normalerweise ein langer Prozess der Heilung. Zur Heilung gehört, dass sie ihr wahres Gesicht zeigt und von ihrem Geheimnis erzählt.

Vielleicht kann es so gehen: Laut um Hilfe bitten. Leise ein Gespräch suchen. Fassaden nicht einfach einreißen, sondern langsam abbauen. Stein für Stein. Bis das wahre Gesicht zum Vorschein kommt. Über Ängste sprechen. Über Depressionen. Über das Versagen. Über die Sehnsucht nach Akzeptanz. Nach Liebe. Über das, was im Inneren verborgen ist. Und dann: Liebe zulassen. Sich lieben lassen. Von den Menschen, die einem nahe und wichtig sind und die einen mit scheinbar unendlicher Geduld durch die Krise begleiten. Sich lieben lassen von Gott, der voller Annahme und Verständnis unser Innerstes heilsam berühren möchte.

Jetzt überlege ich gerade, wie es wäre, wenn wir beide miteinander Kaffee trinken und uns behutsam unsere Geheimnisse erzählen würden. Ob wir uns trauen, unser wahres Gesicht zu zeigen?

Ach, warum denn nicht.
Das wahre Gesicht.
Es ist liebenswert. Und es ist schön.

Aber die Frau fürchtete sich und zitterte. Sie wusste ja, was mit ihr geschehen war. Sie trat vor, warf sich vor ihm nieder und erzählte ihm alles.

Markus 5,33

  • Welche „ganze Wahrheit“ sollte ich zu Gehör bringen? Wo brauche ich Verständnis und Hilfe?
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