Auf den zweiten Blick

Was sehe ich?

Jetzt gerade, in diesem Moment, sehe ich eine Küche. Ich blicke auf unseren Küchentisch, meinen Rechner. Um mich herum liegen ein paar Bücher und Arbeitsblätter. Durch das Fenster kann ich hinaus in den Garten schauen. Auf dem Fensterbrett steht ein Strauß Tulpen.

Doch das ist nur der erste Blick.

Der zweite würde mehr entdecken: Es ist Vormittag und ich habe frei. Völlig unerwartet bin ich durch einen Stundenplantausch beschenkt worden mit Zeit. Nun sitze ich hier mit einer Tasse heißen Tee am Tisch und schreibe. Ich feile an Worten und greife nach Fragen. Ab und an schweift mein Blick hinaus zu den Vorboten des Frühlings: zarte Schneeglöckchenblüten blitzen aus den Beeten. Die bunten Tulpen am Fensterbrett erinnern mich an den, der sie mir gestern geschenkt hat.

Was könnte ich – was könnest du –  auf den zweiten Blick noch entdecken?

Das Leben, unser ganzes Unterwegssein zwischen Alltagstrott und Alltagsschrott ist oft so mühsam. Anstrengend. Auf den ersten Blick wenig reizvoll und spannenend. Das Jetzt ist geprägt von Unfrieden. Die Vergangenheit quält. Die Zukunft ist unklar. Da ist Wut, Enttäuschung, Einsamkeit. Und Unsicherheit im Umgang mit Menschen die anders leben und denken, die fremd sind oder komplett aus unserem System gefallen zu sein scheinen.

So ist es, das Leben. Auf den ersten Blick.

Doch was siehst du? Und was siehst du denn noch?

„Ich sehe Menschen. Sie sehen aus wie Bäume, die umhergehen“, antwortet der Blinde im Markusevangelium.

Ein Mensch beginnt zu sehen. Jesus rührt ihn auf seltsame Weise an. Mit Speichel. Also mit Spucke. So wie meine Mutter früher: Dieses Im-Gesicht-Herumwischen und Zuvor-Noch-auf-das Taschentuch-Spucken. Sehr körperlich. Sehr nah. Genauso wendet Jesus sich dem Blinden zu, löst mit seiner Spucke die verklebten Augen des Mannes. Es ist ein Moment, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Nichts drängt, nichts ist wichtig, außer dass das Leben dieses Mannes sich verändert.

Der Mann beginnt zu sehen. Aus Dunkel wird hell. Nach und nach. Noch ist die Welt da draußen für den, der Sehen lernt, unklar. Sind das Bäume? Seit wann bewegen sich Bäume? Ach, sind das Menschen? Jesus legt dem Mann noch einmal – zum zweiten Mal – die Hände auf die Augen. Erst dann sieht er scharf und deutlich.

Die Begegnung mit Jesus, die Berührung mit seiner Spucke, stellt scharf, was unklar ist. Der Glaube an Gott öffnet Augen. Öffnet Herzen. Hilft, sehen zu lernen. Hilft, die Welt genauer wahrzunehmen. Heller als sie eigentlich ist. Selbst wenn manches noch nicht sofort, nicht heute, klar und deutlich zu sehen ist. Selbst dann schenkt der Glaube Geduld und die Gewissheit, dass das Licht ganz plötzlich aufleuchten wird und das Leben und unsere Begegnungen wieder wärmt.

Ich brauche diesen zweiten Blick. Ich brauche diese Jesus-Spucke!

Ich möchte lernen, genauer hinzuschauen. Besser zu verstehen. Mich. Den anderen. Die Welt. Ganz geduldig.

Ich möchte tiefer sehen. Die Neugier haben, immer wieder nach Gold zu schürfen zwischen Alltagstrott und Alltagsschrott. Vertrauen, dass Gott da ist und nah ist, auch wenn ich ihn im Moment überhaupt nicht spüre. Im Jetzt Frieden finden und Vergangenheit und Zukunft einfach mal ruhen lassen. Gott meine Wut, Enttäuschung und Einsamkeit bringen. Menschen am Rand der Gesellschaft einen zweiten Blick zuwerfen, die mir oft genug den Weg verstellen und denen ich bisher doch kaum Achtung, keinen Augenblick Zeit und keine 50 Cent schenke.

Lasse ich mich auf ihn ein, überrascht er immer wieder. Der zweite Blick. Mitten im Alltäglichen.

Ich finde ihn oft in Gedichten. Weil da mit wenigen Worten ganz genau hingeschaut wird.

Weil ich mit Gedichten lerne, die Welt durch eine andere Brille zu sehen.

So wie in einem Gedicht von Annemarie Schnitt.

Auf den ersten Blick frühstückt sie einfach nur mit ihrem Mann. Aber ihr zweiter Blick wärmt und verwandelt den Tag, als sie ihm dann folgende Zeilen schenkt:

Hallo:                                                                              

wunderschön bist du
mit deinem schlohweißen Haar
mir gegenüber am Frühstückstisch
aus deinen Augen
wächst Wärme mir zu
aus deinem Lächeln
springen Funken
deine Hände halten die Früchte
die du schälst
wie du es immer getan
alle die Früchte
im Garten unseres Glücks

Jesus nahm den Blinden bei der Hand  … spuckte ihm auf die Augen, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: „Was siehst du?“

Markus 8,23

  • Was sehe ich? Und was sehe ich noch?

Foto: Emgert Zondervan

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